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http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,393626,00.htmlFettsucht
Essen, bis der Arzt kommt
Sie waren gefangen in ihren Körpern: Knapp 525 Kilogramm brachte das kalifornische Geschwisterpaar Tehrani gemeinsam auf die Waage. Die nackte Angst vor dem Tod ließ das dralle Duo einen Neuanfang wagen.
Los Angeles - Gigantische Portionen persischen Kebabs, üppige Fastfood-Menüs und Eiskreationen namens "Chunky Monkey" oder "Chubby Hubby" hatten ihre Spuren hinterlassen: Die 37-jährige Sheila und ihr drei Jahre jüngerer Bruder Cyrus futterten sich über die Jahre ein stattliches Fettpolster an - und wurden zu Karikaturen ihrer selbst.
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Per OP in ein neues Leben: Chronische Fettsucht kann lebensbedrohlich sein
Ihre Oberarme hatten den "Durchmesser von Basketbällen" angenommen, die Bäuche hingen "wie Sandsäcke bis zu den Knien", beschreibt die "Los Angeles Times" den bemitleidenswerten Zustand der beiden auf dem traurigen Höhepunkt ihrer zum Teil genetisch bedingten Fettsucht. Einfachste Tätigkeiten wie Autofahren, Treppensteigen, Schuhe zubinden oder das Sitzen auf Stühlen mit Armlehnen gehörten längst der Vergangenheit an. Mit jeweils 262 Kilogramm auf den geplagten Rippen hatten Cyrus und Sheila jede Freude am Leben verloren.
Atemlos, mit kaputten Knien und geschwollenen Beinen schleppten sich die Tehranis durch einen kaum noch zu bewältigenden Alltag. Gegen die Schmerzen und den hohen Blutdruck nahm der zunehmend geschwächte Cyrus täglich eine Handvoll Tabletten - ohne jede Wirkung. Lange Zeit reagierte der heute 34-Jährige mit Galgenhumor auf seinen bedrohlichen Zustand. Oder berief sich auf den rührenden Spruch eines seiner sechs Kinder, das, von Klassenkameraden gehänselt, erklärte: "Mein Daddy ist nicht fett. Mein Daddy ist voll mit Liebe."
Doch weder der körperliche Niedergang noch die Warnungen der Ärzte schreckten das inzwischen schwerkranke Geschwisterpaar aus seinem Fresskoma auf. Erst ein Traum habe die Wende gebracht, heißt es in dem Porträt der "LA Times". Demnach träumte ein enger Freund der Familie, Joe Guarderas, dass Cyrus gestorben sei. Die Ehefrau habe mit den sechs Kindern am Sarg gestanden und den Verlust ihres schwergewichtigen Gatten beweint.
Ein Zeichen, entschied Guarderas und fragte Sheila, was sie für das Leben ihres Bruders geben würde. "Alles", erklärte diese. "Auch das gemeinsame Haus?", hakte der Freund nach. "Ohne mit der Wimper zu zucken", lautete die Antwort. Eben das werde sie in Zukunft vermutlich tun müssen, so Guarderas.
Bankrott ohne Bauch
Die Frage hatte einen ernsten Hintergrund: Eine magenverkleinernde Operation, die zu einer drastischen Gewichtsabnahme führen kann, kostet in den Vereinigten Staaten mindestens 25.000 Dollar. Da in der Regel kein Versicherer für einen derartigen Eingriff aufkommt, muss er von den Patienten selbst finanziert werden. Zu groß seien die Risiken einer Bypass- oder Magenband-Operation bei krankhaft Übergewichtigen, so die Argumentation der Kassen.
Eine im Oktober in der Zeitschrift des US-Ärzteverbandes (Jama) veröffentlichte Studie stellt fest, dass bis zu fünf Prozent der jüngeren und bis zu 13 Prozent der älteren Patienten ein Jahr nach einer Magenverkleinerungs-Operation starben. Deutsche Experten wie der Präsident der deutschen Adipositas-Gesellschaft, Alfred Wirth, stufen das Risiko, an einer solchen OP zu sterben, als wesentlich niedriger ein - Wirth spricht von weniger als einem Prozent.
BODY-MASS-INDEX
Der Body-Mass-Index (BMI) errechnet sich aus dem Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch das Quadrat der Körpergröße in Metern. Anhand dieses Wertes sind Gewichtsklassen definiert. Der BMI ist lediglich ein Richtwert, der die Statur eines Menschen und die individuelle Zusammensetzung des Körpergewichts aus Fett- und Muskelgewebe nicht berücksichtigt.
Aufgeschreckt durch den Traum ihres Bekannten setzten die Tehranis große Hoffnungen in einen derartigen Eingriff. Sie kontaktierten den in Los Angeles ansässigen und für seine Erfahrung bekannten Chirurgen Carson Liu. Der frage sich angesichts des eklatant hohen Body-Mass-Index' seiner neuen Patienten, ob es nicht bereits zu spät für eine Operation sei. Cyrus kam bei einer Größe von 1,82 Meter auf einen BMI von 80, seine Schwester bei 1,60 Meter auf 103 - mehr als viermal soviel wie es einem gesunden Erwachsenen gut tut.
Cyrus' Krankenversicherung lehnte die Zahlung der Operationskosten rigoros ab. Sheila hatte gar keine Versicherung. Eine 100.000-Dollar-Hypothek auf das Haus wurde aufgenommen. Experte Liu empfahl den Tehranis den Einsatz eines Magenbands. Dabei wird das Verdauungsorgan mit einem Silikonband oder einem Ring in Vor- und Restmagen aufgeteilt. Das Volumen verringert sich auf ein Zehntel, der Patient wird schneller satt und isst weniger - im Idealfall auch gesünder.
Das Geschwisterpaar stimmte zu, wenn auch unwillig. Lieber wäre beiden ein Magen-Bypass gewesen, der eine schnellere Gewichtsabnahme garantiert und in den USA zurzeit groß in Mode ist. Waren es 1998 landesweit nur etwa 13.000 Menschen, die zu dieser Methode griffen, ließen sich 2003 bereits über 102.000 Patienten den Magenausgang so an den Dünndarm nähen, dass ein Großteil des Verdauungstraktes umgangen und damit weniger Nährstoffe - sprich Kalorien - aufgenommen werden.
In Deutschland - wo etwa jeder dritte Erwachsene deutlich übergewichtig und damit behandlungsbedürftig ist - gilt dieser brachiale Eingriff als wenig Erfolg versprechend, solange der Patient nicht ebenso radikal seine alten Ernährungsgewohnheiten über Bord wirft. Die Adipositas-Gesellschaft empfiehlt einen Magen-Bypass lediglich bei einem Body-Mass-Index über 40 - und wenn sämtliche anderen Therapien fehlgeschlagen sind. Dann bezahlen hierzulande auch die Kassen.
Der Ring der guten Hoffnung
Rund 60 Prozent aller US-Amerikaner gelten als übergewichtig. Bis zu 400.000 von ihnen wiegen mehr als vier Zentner, 300.000 sterben Schätzungen zufolge jährlich an den Folgen ihrer Fettleibigkeit.
AP
Magenband-Operation: Der Eingriff wird per Video überwacht
Die Tehranis haben es Mitte 2005 satt, zu der Gruppe der potentiell Lebensgefährdeten zu gehören, und beginnen ihre OP-vorbereitende Diät. Protein-Shakes und eine kalorienarme Mahlzeit am Tag lassen die ersten Pfunde purzeln. Die letzte feste Mahlzeit vor der geplanten Operation feiert das Duo mit kleinen Schweinereien: Cyrus gönnt sich einen dreifachen Cheeseburger und einen "Chubby Hubby", Sheila schwelgt in Reis und Kebab aus einem exklusiven Restaurant.
Dann wird es ernst. Während Cyrus' Gesundheitszustand sich durch die Diät stabilisiert hat, ist Sheilas Leber noch immer stark geschwollen - keine gute Voraussetzung für die Narkose. Weil die übrigen Werte in Ordnung sind, riskiert Dr. Liu am 7. Juni vergangenen Jahres den Eingriff. Über den Nabel der Patientin führt er sein OP-Werkzeug mit Mikro-Kamera in den Bauchraum ein. Eine Stunde lang arbeitet er sich durch die harte Fettschicht, bis er zu der grotesk vergrößerten Leber vorstößt und den Magen freilegen kann. Zweieinhalb Stunden braucht Liu, um das Magenband zu legen - fünfmal so lang wie gewöhnlich.
Der Hunger im Kopf bleibt
Cyrus hat Glück: Seine Bauchwände sind weicher, die Leber ist kleiner - nach nur 50 Minuten ist der Spuk vorbei. Die Operation zeigt Wirkung: Nach nur winzigen Mengen an Nahrung sind die Geschwister eigentümlich satt - wenn auch nicht immer glücklich. Während Cyrus hochmotiviert beginnt, mit seinen Kindern zu spielen und sich mehr zu bewegen, hat Sheila Depressionen, weil ihr das Essen fehlt.
Zwei Monate nach der Operation haben die Geschwister die magische Gewichtsgrenze von 500 US-Pfund, etwa 227 Kilogramm, unterschritten. Cyrus fängt an, Fitness zu treiben und verzichtet komplett auf Süßigkeiten und andere Dickmacher. Sheila nascht. Ein halbes Jahr nach dem chirurgischen Eingriff können die Tehranis stolz auf sich sein: Cyrus hat 66 Kilogramm verloren, seine Schwester immerhin 45. Der Unterschied: Während Cyrus weiter abnimmt, legt Sheila trotz Magenverkleinerung um knapp ein Kilo zu.
"Es ist unglaublich, wie viel mehr Energie ich habe", freut sich Cyrus. "Ich habe einen ganzen Menschen verloren." Enttäuschung und Wut bei Sheila: "Es ist als würden wir zwei völlig verschiedene Erfahrungen machen." Sie müsse die emotionalen Gründe, die sie zum Essen trieben, in den Griff bekommen, erklärt die 37-Jährige. Ihre Schlussfolgerung: "Ich brauche ein Magenband für meinen Kopf."
Annette Langer