Ich bin Chemiker und berate im Bereich Produktsicherheit mittelständische Unternehmen und teilweise auch Großindustrie vom Gemüsesafthersteller über KfZ-Reinigungsmittel, Wandfarben bis hin zu High-Chem-Spezialkeramiken.
Der Beruf ist auch meine Berufung. Ich halte es für sehr wichtig, daß dieser Job ordentlich gemacht wird, und ich bin der Ansicht, daß der Normalbürger viel zu wenig über dieses wichtige Gebiet weiß.
Forciert durch unfähige Berichterstattung in den Medien denkt der Normalbürger, alles, was mit
Chemie oder Chemikalien zu tun hat, ist hochgiftig und hochexplosiv. Das stimmt so nicht.
Viele Dinge sind ungefährlich. Andere Dinge bergen kein Risiko. Wiederum bei anderen Dingen muß man sehr gut aufpassen. Aber selbst dann: Wie sieht denn die Gefahr eigentlich aus? Wo lauern denn Gesundheitsschäden?
Durch die undifferenzierte Berichterstattung in den Medien kann der Normalbürger nicht mehr differenzieren. Er kann nicht mehr unterscheiden, wo ein Risiko besteht und wo nicht. Das führt zu zweierlei Problemen:
Sieh Dir teilweise Beiträge in diesem Forum an: Mache Damen und Herren verteufeln alles, was mit Chemie zu tun hat. "Chemische Reinigungsmittel kommen mir nicht ins Haus! Kalkrückstände im Klo reinige ich ganz ohne Chemie mit Zitronensäure".
Zitronensäure ist doch Chemie pur! Aber sie ist umweltverträglich und relativ ungefährlich, Doch - Halt! Was machst Du, wenn Dir Zitronensäure in den Handschuh läuft oder Du sie gar ins Auge bekommst? Dann wird es auf einmal brandgefährlich. Wirkt die Zitronensäure längere Zeit auf die
Haut ein, können schlimme Ekzeme entstehen. Das Auge kann dauerhaft geschädigt werden.
Das Gleiche gilt für Essig.
Merkst Du es? Die unbedarfte Hausfrau (entschuldige die platte Formulierung) kann nicht mehr unterscheiden und merkt nicht mehr, *wenn* es gefährlich wird.
Der andere Fall ist der Arbeitsschutz:
Der Arbeiter im Betrieb bekommt durch die Medien suggeriert: *Alles* wird als sehr gefährlich eingestuft. Dies entspricht aber nicht seinem Erfahrungsbereich: Er arbeitet mit Nitroverdünnung und stirbt nicht daran. Er arbeitet mit Ölen und stirbt nicht daran. Der alte Meister hat vor 30 Jahren seine Hände in Benzol gebadet und ist nicht sofort umgekippt.
Doch - halt: Benzol ist *nicht* besonders akut toxisch. Aber es ist in hohem Maße krebserzeugend. DAS allerdings merkst Du nicht in den nächsten 10 Minuten, das merkst Du erst in 20 - 30 Jahren, und dann ist es viel zu spät.
Es ist ein riesiges Problem im Arbeitsschutz, den Arbeitern klar zu machen, wann sie sich wirklich schützen müssen, weil in den Medien und im Volksmund einfach nicht differenziert wird.
Das ist der Grund, weshalb ich manchmal auch hier im Forum so aggressiv reagiere: Ich will treffend informieren. Ich sage Euch nach bestem Wissen und Gewissen, was ich für gefährlich halte, und was nicht. Der Normalbürger kann es in den meisten Fällen nicht wissen, weil die Medien falsch informieren und die Schule auf diesem Gebiet in ihrem Bildungsauftrag vollständig versagt; Produktsicherheit und die Interpretation von Kennzeichnungen sind nicht Unterrichtsbestandteil des Chemieunterrichts oder verwandter Fächer.
Was mich dann aber ärgert, ist die teilweise fest implemetierte Ignoranz. Die Signatur eines früheren Users fand ich dazu äußerst treffend:
Ignoranz ist nicht Nichtwissen, Ignoranz ist Nichtwissenwollen.
Deshalb: Wenn es Fragen zu diesem Bereich gibt, stehe ich gerne zur Verfügung. Leider bin ich nicht regelmäßig in diesem Forum, aber wenn mein urteil gefragt ist, weiß Obelix, wie er mich schnell erreichen kann.
Viele Grüße und eine gute Woche,
H.H.
Nachtrag:
ein weiteres Problem ist falschinformation durch scheinbar seriöse Quellen. Im Internet bsp. findest Du zu jedem Material Informationen, daß es doch ach so schädlich sei. Nungut, mit ein wenig menschenverstand sind solche Sites relativ schnell als unseriös entlarvt.
Schlimmer wird es z.B. bei der Zeitschrift Ökotest, meinen ganz speziellen Freunden. Während ich die "Stiftung Warentest" für eine ausgezeichnete Institution halte, habe ich in der Ökotest schon oftmals Artikel gefunden, die mir die
Haare zu Berge stehen ließen. Teilweise werden dort Halbwahrheiten verkauft und in einen sachlichen zusammenhang gebracht, der fachlich unhaltbar ist - allerdings ohne direkt Lügen zu verbreiten. Für einen Laien ist das meistens nicht mehr erkennbar.
Die nächste Stufe sind dann wirklich wissenschaftliche Artikel aus seriöser Quelle, die mit politischem Ziel verfasst wurden. Ein nettes Beispiel ist der vericht des Institutes für Krebsforschung über das Passiv-Rauchen: Intention des Berichtes ist es, Argumente für umfangreiche Rauchverbote zu finden. Grundsätzlich ist das ja ein hehres Ziel; nimmt man den Bericht allerdings kritisch auseinander, dann muß man streng genommen feststellen, daß die Forschungsergebnisse die relative *Ungefährlichkeit* des Passivrauchens dokumentieren. Wenngleich ich ursprünglich mit der Intention der Autorin übereinstimmte, zeiogte mir die Studie dieses Falles, daß man auch bei diesem Thema nicht mit kanonen auf Spatzen schießen, sondern Augenmaß walten lassen sollte. Ein Laie hat aber jedenfalls keine Chance, diesen Bericht richtig zu bewerten; er hat nichtmals die Chance, meine Argumente zu verstehen. Hier befinden wir uns schlicht auf der Ebene der Lobby-Arbeit, und hier gelten andere Gesetze.
Bearbeitet von Hornblower am 09.10.2006 08:56:40