Leider muss ich auch hier meinen
Senf dazugeben.
Meine Mutter hatte eine Patientenverfügung. Seit 1990.
Dazu kurz die Geschichte:
Ostern 1996 waren Schatzl und ich bei Schwimu in Thüringen, rund 200 Kilometer von Kassel entfernt. Da meine Mutter (damals 66) sich lieber zurückzog, blieb sie daheim, obwohl Schwiemu sie eingeladen hatte.
Am Gründonnerstag fuhr sie mit der Strassenbahn in eine Apotheke in Wilhelmshöhe, dem bekanntesten Stadtteil von Kassel. Nur eine kleine Besorgung, etwa 4 Haltestellen von ihrer Wohnung entfernt.
In der Apotheke erlitt sie einen Herzstillstand aufgrund ihrer Herzrhythmusstörungen. Das erfuhr ich allerdings erst am Ostersonntag, nachdem ich heimgekommen war und den AB abgehört hatte. Mein damaliger Chef (Taxiunternehmer in Kassel) hat aufs Band gesprochen, unter Anderem auch, dass sogar die Polizei versucht hatte, mich ausfindig zu machen. Unsere Nummer stand nicht im Telefonbuch.
Ich rief in dem von meinem Chef genannten Krankenhaus an, erfuhr, dass meine Mutter dort auf der Intensiv lag. Im Koma.
Sofort fuhren wir also von Eisenach, wo ich derzeit wohnte, nach Kassel ins Burgfeldkrankenhaus. Dort erfuhr ich, dass meine Mutter trotz ihrer Patientenverfügung widerbelebt wurde. Und das, nachdem ihr Hirn NEUN Minuten ohne Sauerstoff war. Ich stand vor ihr, allein, weil nur einer in das Intensivzimmer durfte. Mein erster Gedanke war, die Geräte abzuschalten. Doch ich beherrschte mich, dachte, sieben Jahre Knast wären das nicht wert. Sie sah erbarmungswürdig aus. Obwohl im tiefsten Koma (kein künstliches) schaute sie mich an. Leerer Blick. Sie bewegte sich auf dem Bett wie eine Schlange. Den Anblick habe ich bis heute nicht vergessen.
Nach sechs Tagen erwachte sie aus dem Koma. Jeden Tag fuhr ich von Eisenach nach Kassel, um sie zu besuchen. Ich dachte mir, mein Besuch würde ihr zumindest seelisch helfen.
Das Gedächtnis war nach diesen entscheidenden neun Minuten weg. Vollkommen. Bis auf das allseits bekannte Langzeitgedächtnis. Sie wusste meinen Namen. Aber nicht, ob ich ihr Sohn, ihr Bruder oder ihr Vater war. Dann fragte sie oft nach ihren Eltern. Mein Opa starb 1972, meine Oma 1981. Trotzdem fragte sie immer wieder, wo ich ihre Eltern gelassen hätte. Der Zustand besserte sich nicht. Aber die Ärzte erzählten mir immer wieder, dass noch Hoffnung bestehen würde.
Nach etwas 14 Tagen bekam ich aus dem Krankenhaus einen Anruf, kurz, bevor ich sowieso nach Kassel fahren wollte.
Meine Mutter sei spurlos verschwunden. Sie lag zwar immer noch auf der Intensiv, war aber nicht mehr "verkabelt".
Als ich im Krankenhaus ankam, suchte ich sie. Die Schwestern haben sie nicht gefunden, ich aber. Sie kauerte im Keller unter der Treppe. Dazu muss ich sagen, die Intensivstation lag im fünften Stock. Meine Mutter hatte Angst. Klar, wenn man sich nicht erinnern kann, jedes Ereignis nach dreißig Sekunden aus dem gedächtnis verschwunden ist, kann man schon Panik bekommen. Also beruhigte ich das alte Mädchen und schaffte sie hoch in ihr Zimmer. In dem Augenblick hätte ich das Pflegepersonal massakrieren können. Aber ich tat nichts dergleichen.
Nach fünf langen Wochen schließlich wurde meine Mutter verlegt in die Reha-Klinik nach Lippoldsberg (Oberweser, zwischen Bad Karlshafen und Hann. Münden).Dort blieb sie - ohne Aussicht auf Erfolg - drei lange Monate. Zwar wusste sie alle Namen der Leute, die sie besucht hatten, konnte aber keinen zuordnen. Ihren Bruder, der von Berlin kam, titulierte sie als ihren Enkel, der mächtig alt geworden sei, ihre Schwägerin als ihre Mutter. Sie fragte auch nach ihrer Wohnung. Auf die sollte ich peinlich genau aufpassen. Daran erinnerte sie sich. Aber wo ihre inzwischen aufgelöste Wohnung war - das wusste sie nicht.
Sie war ein Pflegefall. 24 Stunden - rund um die Uhr brauchte sie Aufsicht. Ein guter, längjähriger Freund von mir fragte mich, ob ich denn wahnsinnig sei, meine Mutter ins Heim geben zu wollen. Ich bat ihn, sie mit mir zu besuchen. Später entschuldigte er sich bei mir. Er sagte, der Besuch sei sein erster echter Horrorfilm gewesen.
Ich suchte also gemeinsam mit meiner Verwandtschaft schweren Herzens einen Heimplatz. Berlin - in der Heimat ihres Bruders war nichts frei. Ich kannte ja durch meine Arbeit auch sämtliche Pflegeheime in Kassel - das war für mich das personifizierte Grauen.
Dann fand ich in Ruhla - einige Kilometer von meinem damaligen Wohnort - ein Heim mit sehr herzlichen Mitarbeitern. Also kam meine Mutter dort hin. Zwei Jahre vegetierte sie dort, bis der nächste Herzanfall kam.
Sie kam nach Eisenach ins Krankenhaus. Drei Tage nach ihrer Einlieferung verstarb sie. Das Herz war - Gott sei Dank - zu schwach.
diese Martyrium wünsche ich keinem anderen Menschen - und erst Recht nicht den Angehörigen.
Aber - und das sei hier mit aller Deutlichkeit gesagt - NOTÄRZTE scheren sich einen Dreck um Patientenverfügungen. Sie wollen "Leben retten". Ob allerdings ein solches "Leben" noch lebenswert ist, danach fragt niemand.
Meine Mutter hätte es besser haben können. Ohne "Hilfe" hätte sie einen Tod ohne Qualen gehabt. So aber hat sich auch mein Leben verändert. Für mich war es ein fast drei Jahre andauernder Alptraum, der erst mit ihrer Beerdigung sein Ende fand.
Sollte irgendjemand nun glauben, ich erzähle hier nur eine Geschichte, diese ist so wahr, wie ich selbst noch lebe.
Und nun soll mich nochmal irgendjemand fragen, was ich von Patientenverfügungen halte..........
Gruß
Abraxas