Psychostimulanzien für Kinder: Diagnose statt Erziehung?
Elisabeth Gründler
"Meine Frau hört mir nie zu!", klagt Jörg seinem Sportskameraden nach dem Training. "Ich habe ihr die Sachen mit dem Computer schon zwanzigmal erklärt, sie will es einfach nicht verstehen!"
"Du solltest sie mal zum Arzt schicken", rät Jörgs Kumpel, "vielleicht hat sie auch ein Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom? Unser Sohn kriegt jetzt Tabletten und seitdem passt er in der Schule viel besser auf!"
"Eine Krankheit soll das sein? Mit ihrer neuen voll-elektronischen Strickmaschine kommt sie prima klar! Jeden Abend hockt sie davor und mein Schrank quillt über von Pullovern!"
"Mein Mann hat immer etwas anderes zu tun, wenn ich mit ihm über unsere Urlaubsplanung sprechen will", beschwert sich Claudia bei ihrer besten Freundin. "Vielleicht hat er keine Lust auf Familienurlaub?" mutmaßt die Freundin.
"Oder es ist ihm einfach egal, wohin ihr in die Sonne fahrt? Ich muss das auch immer allein entscheiden, wohin wir in die Sonne fahren, mein Mann interessiert sich auch nicht dafür!"
Desinteresse, vermuten wir bei erwachsenen Menschen, wenn sie sich gegenseitig nicht zuhören; oder ein Beziehungsproblem. Dann heißt es: "Nehmt Euch doch mal richtig Zeit füreinander!" Oder: "Geht in eine Beratung, wenn ihr nicht mehr miteinander reden könnt!" Doch bei einem Schulkind, das nicht zuhört oder stillsitzt, ist die Sache heute ziemlich schnell klar: Eine Störung liegt vor, oder ein Syndrom - das Kind muss zum Arzt!
Eine Diagnose macht Karriere
Seit Mitte der achtziger Jahre in den USA und seit knapp einem Jahrzehnt auch in Mitteleuropa. Der Verkauf von Methylphenidat boomt - in Deutschland vertrieben unter dem Namen "Ritalin" oder "Medikinet". Methylphenidat ist ein Amphetamin - ein Aufputschmittel, wie der Volksmund sagt. Es ist ein Psychostimulanz und darf darum hierzulande nur auf Betäubungsmittelrezept verschrieben werden. Darüber muss jeder Apotheker genau Buch führen. Und davon wird in Deutschland reger Gebrauch gemacht: Nicht nur Kinderärzte und Kinderpsychiater verschreiben Kindern die Substanz, sondern auch Allgemeinmediziner, manchmal sogar Zahn- oder Frauenärzte, so die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marion Caspers-Merk. Im August 2001 warnte sie erstmalig davor, dass ein Missbrauch dieses Stoffes nicht mehr ausgeschlossen werden könne.
Eine aktuelle Untersuchung des Bremer Gesundheitswissenschaftlers und Pharmakologen Professor Gerd Glaeske und seiner Kollegin Katrin Jahnsen, ergab, dass 30% aller Ritalin-Verordnungen in Deutschland von nur 66 Ärzten getätigt werden. Von "Schwerpunkt-Praxen" ist in dem Bericht die Rede. Dass deckt sich mit der Alltagserfahrung von Eltern und Lehrern, dass in bestimmten Arztpraxen die gewünschten Diagnosen gestellt und die zu registrierenden
Rezepte ausgegeben werden. Eine Apothekerin, die selbst nur wenige Rezepte pro Monat in ihrer Apotheke umsetzt berichtet, dass ein Kollege sich einen größeren Tresor anschaffen musste, um die Riesenmengen Ritalin, die in seinem Einzugsgebiet plötzlich verordnet wird, den gesetzlichen Vorschriften entsprechend lagern zu können.
Steigende Verordnungsmengen eines Aufputschmittels
Für den Haupthersteller von Methylphenidat, den Schweizer Pharmakonzern Novartis, ist es ein lohnendes Geschäft. Allein in Deutschland stieg die Absatzmenge Ende der neunziger Jahre um das Vierzigfache: von 0,7 Mio. Tabletten pro Jahr 1995 auf 31 Mio. 1999. Nach Angaben des Bundesinstitutes für Arzneimittel- und Medizinprodukte (BfAM) stieg der Verbrauch des Wirkstoffes von 34 kg 1993 auf 119 kg 1997. Die im ersten Halbjahr 2001 in Deutschland verschriebene Menge reicht für 16,4 Mio. einzelne Tagesdosen. Auf der Hitliste der meistverkauften Psychopharmaka steht Ritalin auf Rang elf, Tendenz steigend.
Ein Blick nach Amerika zeigt, wohin die Reise möglicherweise noch geht: Im Jahr 2000 wurden dort fast 10 Millionen mal ein Medikament mit dem Wirkstoff Methylphenidat verschrieben. Etwa 90 % der weltweit produzierten Ritalinmengen werden in den USA verbraucht. Nach Schätzung der amerikanischen Drogenbehörde, nehmen heute 15 % der amerikanischen Schulkinder Ritalin. Die Diagnose "ADHS" wurde 1991 in den USA als Behinderung anerkannt. Schulen haben dort die Aufgabe, diagnostizierten Kindern besonderen Förderunterricht anzubieten. In einigen Bundesstaaten können seit 1990 sozial schwache Familien für ein Kind mit ADS einen Zuschuss von 400 US$ im Monat beantragen. In der Folge stieg die Zahl der diagnostizierten und medikalisierten Kinder dort von 5% auf 25%.
Diagnose für den Zappelphilipp
Immer mehr Eltern sehen sich von Lehrern oder vom Kindergarten gedrängt, nun doch endlich mit ihrem Kind zum Arzt zu gehen. Sonst sei eine Begutachtung für die Sonderschule dran oder die Einschulung gefährdet. Eltern stellen sich die Frage, ob ihr Kind an einer angeborenen oder erworbenen Störung leidet. Doch darüber, wie die Krankheit überhaupt heißen soll, herrscht Sprachverwirrung: Häufig wird sie "ADS" genannt, "Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom" oder auch "HKS" für: "Hyperkinetischen-Syndrom". Manchmal ist auch von "ADHD" die Rede, was für das amerikanische "Attention Deficit Hyperactivity Disorder" steht. Andere Quellen verwenden das Kürzel "AD/HS", manchmal auch ohne Schrägstrich "ADHS". Mal ist von "ADD" die Rede (Attention-Deficit-Disorder). Noch vor einigen Jahren wurde bei vielen Kindern ein "MCD" festgestellt, "Minimal-Cerebral-Dysfunction". Vielfach wird auch von der "Zappelphilipp-Krankheit" gesprochen. Also doch nichts Neues? Die Kinderbuchfigur "Zappelphilipp", geschaffen von dem Arzt Heinrich Hoffmann vor 150 Jahren ist ein Junge (!), der die häusliche Ordnung durch sein Gezappel nachhaltig stört. Sie diente bereits Generationen von Kindern als warnendes Beispiel dafür, wie Kind sich auf gar keinen Fall benehmen darf! Und so vielfältig und unklar wie der Name dieses Leidens, sind auch die Vermutungen über seine Ursachen.
Widersprüchliche Hypothesen über die Ursachen
Einige Wissenschaftler machen einen Dopaminmangel im Gehirn für zappeliges und unaufmerksames Verhalten verantwortlich. Sie vermuten einen genetischen Defekt. Dopamin ist der Name eines Botenstoffes, der im Gehirn produziert wird. Er dient dazu, die Weiterleitung elektrischer Impulse zu beeinflussen. Wenn Dopamin fehlt, kann das Gehirn nicht in ausreichendem Maße auf äußere Reize reagieren und ein der Situation entsprechende Verhalten bewirken. Doch andere Wissenschaftler vertreten genau das Gegenteil: die Kinder litten unter einem Dopaminüberschuss.
Beides sind wissenschaftliche Hypothesen, die bis heute weder bewiesen noch widerlegt werden konnten. Die neueren Hypothesen vom Dopaminmangel und Dopaminüberschuss lösten im letzten Jahrzehnt eine veraltete Hypothese ab, der die Wissenschaftler und Pädagogen bis dahin gefolgt waren: auffällige Unruhe und Zappeligkeit von Kindern beruhe auf einer hirnorganischen Schädigung infolge einer Entzündung. Diese Thesen wurden widerlegt. Im Wissenschaftsbetrieb ist das ein ganz normaler Vorgang. Sämtliche Diagnosen kindlicher Zappeligkeit und ihre Therapie mit mit Psychostimulanzien wie Methylphenidat, beruhen auf bisher unbewiesenen wissenschaftlichen Hypothesen - darüber sollten sich Eltern im klaren sein.
Zahlreiche Nebenwirkungen
Chemisch ist das Methylphenidat eng verwandt mit dem Kokain. Es wirkt auch ähnlich. Unter der Wirkung von Methylphenidat werden zappelige Kinder plötzlich ruhiger und sind eher bereit zu tun, was Lehrer und Eltern von ihnen fordern. Doch die Wirkung läßt sofort nach, wenn das Psychostimulanz weggelassen wird. Methylphenidat wirkt in gleiche Weise auf Menschen ohne auffälliges Verhalten. Daher ist die Wirkung des Aufputschmittels noch keinerlei Nachweis für das Vorhandensein einer Krankheit! Was genau im Gehirn und im Körper der Kindes passiert, wenn ihm Methylphenidat, also von "Ritalin", gegeben wird, darüber streiten sich die Experten. Über einige der "Nebenwirkungen", die immer wieder beobachtet werden, gibt der Beipackzettel Auskunft: Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Magenbeschwerden, Traurigkeit, Ängstlichkeit,
Kopfschmerzen, Schwindel, Gewichtsverlust,
Durchfall,
Verstopfung, nervöse Tics, Hautausschläge,
Haarausfall, Gelenkschmerzen, Sinnestäuschungen bis hin zu psychotischen Reaktionen, Herzjagen und Herzrhythmusstörungen. Menschen die Ritalin nehmen, sind in ihrer Verkehrtauglichkeit beeinträchtigt und sollten kein
AutoForscher, Ärzte und Pädagogen warnen
"Ich mag mich gar nicht, wie ich dann bin, wenn ich die Tabletten genommen habe", vertraute die 10-jährige Tina ihrem Therapeuten an. Doch ihre Lehrer loben sie sehr, weil ihre Schulleistungen sich verbessert haben. Ihre Eltern sind sehr erleichtert, weil ihre Tochter jetzt keine Schulversagerin mehr ist. Ihre Angst, Tina könne im späteren Leben scheitern, ist deutlich weniger geworden.
Den Nachweis einer organischen oder biochemischen Veränderung im Stoffwechsel eines Kindes, bei dem die Zappelphilipp-Krankheit diagnostiziert wurde, ist die Wissenschaft bis heute schuldig geblieben. Die Diagnosen des Syndroms werden ausschließlich anhand von beobachteten Verhaltensweisen des Kindes gestellt. Einer der Hauptmaßstäbe ist das Verhalten in der Schule - einer gesellschaftlichen Institution, die in Deutschland unter massiver Kritik steht. Ihre Strukturen sind veraltet. PISA hat dem System schlechte Noten gegeben. Bildungspolitiker und Interessengruppen debattieren noch, wie Abhilfe zu schaffen sei. Bis sie ihre Entschlüsse gefasst haben, werden Kinder, die sich nicht angepasst genug verhalten, diagnostiziert und auf Rezept ruhig gestellt - sehr zur Erleichterung der überforderten Pädagogen.
Die Langzeitfolgen sind nicht absehbar
Sowohl in Deutschland, wie in den USA, dem Ursprungsland von Diagnose und Therapie der "Störung", mehren sich mittlerweile die besorgten und kritischen Stimmen.
Als erster deutscher Wissenschaftler warnte Professor Gerald Hüther, Neurologe an der Universität Göttingen: Die Diagnose AHDS, so der Forscher, beruhe auf einer veralteten Vorstellung des Gehirns. Das Konzept eines organisch-angeboren und daher lebenslang unveränderlichen Defektes sei nach dem heutigen Stand der Hirnforschung überholt. "Das Gehirn ist ein sehr komplexes, anpassungsfähiges und leicht verformbares Organ. Es strukturiert sich in wichtigen Bereichen durch den Gebrauch, der von ihm gemacht wird. Die Lebensbedingungen des Kindes, das heißt, die Qualität der Beziehungen, in denen es lebt, seine Möglichkeiten sich zu bewegen, aktiv zu werden, zu spielen und soziale Kontakte zu knüpfen - das alles beeinflusst die Ausreifung und die weitere Entwicklung seines Gehirns", sagte Professor Hüther.
Im Klartext heißt das: die Lebensumstände des Kindes, z.B. Beziehungslosigkeit, Wohlstandsverwahrlosung, unkontrollierter Medienkonsum im frühen Alter, mangelnde Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten beeinflussen die Hirnentwicklung. Eine einzelne organische Ursache - ob nun Dopaminmangel oder Dopaminüberfluss - kann für das Verhalten des Kindes nicht verantwortlich gemacht werden, sagt Hüther. Im übrigen zeigen Tierversuche, dass das Hirnwachstum eines jungen Organismus durch Ritalin dauerhaft beeinflusst wird. Welche Folgen das langfristig hat, kann heute niemand sagen. Langzeit-Beobachtungen liegen noch nicht vor. Dass eine der Langzeitfolgen die Parkinsonsche Krankheit sein könnte, will Hüther nicht ausschließen.
Unruhe und Hektik als kulturelles Phänomen
Ritalin, so der amerikanische Pharmakologe und Psychologe, Richard DeGrandpré, von Universität Burlington in Vermont, USA, bewirke zwar Veränderungen im Verhalten der Kinder, habe aber keine nachgewiesene Langzeitwirkungen bezüglich des sozialen Anpassungsverhaltens, der kognitiven Entwicklung oder der schulischen Leistung. Der Autor von "Die Ritalin-Gesellschaft - Eine Generation wird krankgeschrieben" kritisiert den Ritalinboom als Erscheinungsform amerikanischen "Schnellfeuerkultur". Er sieht die Krankheit hauptsächlich durch diese Kultur erzeugt. Richard DeGrandpré plädiert darum für eine radikale Verlangsamung unseres Lebensstils: "Wenn die Verbreitung von ADS wesentlich das Ergebnis einer kulturell verursachten Störung des menschlichen Bewusstseins ist, dann müssen wir nach Mitteln und Wegen suchen, um die Wirkungen der chronischen Konfrontation mit einem zunehmend impulsiven, reizüberfluteten Lebensstil aufzuheben. Dies gilt für alle, die in der Falle der beschleunigten Gesellschaft sitzen und zu einem gewissen Grad an der Sucht nach Sinnesreizen leiden. Schließlich zeigen Eltern von ADS-Kindern oft viele der gleichen Symptome. Das bedeutet, dass wir uns um unseren eigenen süchtigen Lebensstil kümmern müssen, wenn wir uns mit dem der Kinder beschäftigen."
Erfahrene Schulpädagogen, Familientherapeuten und Ärzte sprechen sich für eine Erziehung unruhiger und verhaltensauffälliger Kinder ohne Psychostimulanzien aus. Hier Auswahl kritischer Literatur:
Gerald Hüther/ Helmut Bonney, Neues vom Zappelphilipp. ADS verstehen vorbeugen und behandeln, Düsseldorf 2002 [wissenschaftlicher Hintergrund, neueste Forschung, gut lesbar]
Die Ritalin-Gesellschaft. ADS - eine Generation wird krankgeschrieben, Beltz-Verlag 2002 [kritische Analyse auf wissenschaftlicher Grundlage, gut verständlich]
Lawrence H. Diller, ADS & Co. Braucht mein Kind Medikamente?, Patmos-Verlag 2003 [ Der amerikanische Kinderarzt und Familientherapeut bilanziert kritisch Diagnose und Medikation und zeigt Alternativen.]
Dieter Krowatzschek, Alles über ADS, Ein Ratgeber für Eltern und Lehrer, Walter Verlag 2001 [Ein erfahrener Schulpsychologe, der Alternativen zu Psychostimulanzien zeigt.]
Wolfgang Bergmann, Nur Eltern können wirklich helfen, Lernproblem, Ängste, Konzentrationsschwächen, Düsseldorf 2002 [Ein Familientherapeut und Vater, der für Lernprozesse von Eltern plädiert.]
Den letzten drei Titeln [3.-5.] ist gemeinsam, dass sie die Institution Schule, deren Lernorganisation und Anforderungen an die Kinder, nicht kritisch hinterfragen!
Weitere Informationen: www.ial-lernen.de
Autorin
Elisabeth C. Gründler
Freie Journalistin
Am Listholze 3
30177 Hannover
....ganz meine Meinung :D